Den Verfall der MNs auf die VL/RL-Trennung zu schieben, halte ich für wenig überzeugend. Die zwischenzeitlichen Kartenkriege dürften mehr dazu beigetragen haben, ebenso das ansteigende Alter der Spielerschaft. Als Schüler hatte ich auch mehr Zeit für die MNs als heute, da meine MN-Aktivität vor allem vom Prokrastinieren profitiert.
Die nach Darstellung ihrer Verfechter als herrschend zu qualifizierende Theorie der VL/RL-Trennung ist sicherlich nicht die alleinige Ursache für den Verfall der deutschsprachigen MN-Szene. Aber sie ist in jedem Fall mitursächlich.
Zuvörderst einmal indem sie eine Lösung darstellte, für die anschließend noch ein passendes Problem ge- oder vielleicht treffender noch erfunden werden musste, anstatt dass man sich den tatsächlich bestehenden Problemen gewidmet hat. Zu diesen zählte an prominenter Stelle sicherlich, wie von dir selbst benannt, schon damals ein rasch zunehmender Verlust des Anschlusses an die Entwicklung der technischen Möglichkeiten des Internets bzw. im Internet. Dieser führte im Zusammenwirken mit einer auch ansonsten vernachlässigten Werbung und Außendarstellung, wie auch der ebenfalls von dir angesprochenen "Überalterung" der Bürger und damit einhergehend ihrem zahlenmäßig zunehmenden Ausscheidens auf Grund v. a. eines natürlichen biographischen Interessen- und Prioritätenwandels, letztlich zu einer konstanten Abnahme des Bürgerbestandes.
Darauf haben die Micronations aber nicht reagiert, indem sie sich etwa optisch aufgemotzt und ihren Nutzerkomfort dem Stand der Technik angeglichen hätten. Sie haben stattdessen lieber begonnen, ihr Selbstverständnis umzubauen, von "Internet-Staaten" hin zu "Rollenspielen" und/oder "Simulationen". Und haben dabei vor allem ihre charakteristischen Stärken und Vorteile aufgegeben.
An erster Stelle stand bei dieser konzeptionellen Neuausrichtung die Aufgabe des Prinzips der (nahezu) "unbegrenzten Möglichkeiten". Mehr und mehr zu diskutierende Themen, zu bewältigende Aufgaben, zu lösende Probleme und zu nutzende Optionen wurden in ein sich immer weiter aufblähendes und das "SimOn" zunehmend an den Rand drängendes "SimOff" verschoben. Der Fokus wechselte davon, Teil eines Internet-Staates zu sein dazu, ein Rollenspiel oder eine Simulation zu organisieren.
Besonders fatal an dieser
neuen VL-/RL-Trennung - die Betonung auf ihrer Neuheit, weil es so was im Prinzip schon immer gab! - war insbesondere die Verurteilung eines klug und zweckdienlich eingesetzten "Zwiedenkens" als "Sim-Schweinerei", bei gleichzeitiger Propaganda einer Art Chinesischen Mauer in den Köpfen der Bürger (neu: "Mitspieler" o. ä.).
Plötzlich konnten etwa offensichtlich unsinnige, unbrauchbare oder gar potenziell schädliche Ideen - beispielhaft seien bloß solche genannt, die an die virtuelle statt der realen Bevölkerungszahl anknüpften - nicht mehr als solche kritisiert und abgelehnt werden. Oder jedenfalls nicht mehr im "SimOn", wo Diskussionen und Entscheidungsprozesse ja eigentlich hingehören! Es blieb nur die Verlagerung der Diskussion ins "SimOff", was dem politischen Betrieb im Staat natürlich immens schadete. Vernünftige und zielführende Debatten im "SimOn" waren aber unmöglich geworden, denn "sim-korrekte" Sprachregelungen hatten die eigentliche Politik in den MNs in eine geradezu kafkaesk absurde Variante des Gesellschaftsspiels "Tabu" verwandelt: statt einem Kärtchen mit 5 verbotenen Begriffen, bekam man einen ganzen Turm Klopapierrollen voller verbotener Begriffe, Denkweisen, Assoziationen, Argumentationsstränge usw. Und insbesondere verboten war dabei alles, was die Diskussionsteilnehmer irgendwie einer tatsächlich sachgerechten Lösung hätte näherbringen können.
In der Konsequenz dieses Umbaus ging den Micronations vor allem auch einer ihrer ganz fundamentalen Vorzüge verloren, der einst sicherlich beträchtlichen Anteil an ihrer Erfolgsgeschichte hatte, nämlich ihre intuitive "Bedienbarkeit". Früher konnte man einfach in einem Staat seiner Wahl einbürgern und sich dann gleich ins Getümmel stürzen. Die wenigen Regeln und Abläufe, die es zu lernen gab, schliffen sich ganz automatisch binnen kurzer Zeit ein. Nun bekamen Neubürger zur Begrüßung erst mal auf Papier gedruckt wahrscheinlich kilogrammschwere "Handbücher" oder "Leitfäden" zur korrekten Simulationsweise auf den Kopf gehauen - bitte auswendig lernen.
Aber mit dem erworbenen Wissen dann bloß nicht für irgend ein Amt kandidieren, eine Partei gründen oder so was! Sondern gleich in den Endlos-Thread zum gegenseitigen Ankeifen und Belehren über die korrekte Simulationsweise einsteigen. Fehlte eigentlich nur noch ein - natürlich als SimOff-Organ eingerichtetes! - "Simulationsgericht" zur Entscheidung von Zweifelsfällen. Wobei mancherorts die sog. "Spielleitungen" diese Rolle jedenfalls hinsichtlich der Beanspruchung einer Kompetenzen-Kompetenz ganz hervorragend erfüllt haben. Nur mit der wirklichen Friedensstiftung haperte es dann doch quasi dauernd. Also zurück in den Endlos-Thread, die Parlamentswahlen müssen dann eben verschoben werden, "bis das hier geklärt ist".
Als dieser Wahnsinn anfing, hatten die Micronations das primäre Problem, dass die von ihnen genutzte Software allmählich veraltet war, was bei der Außendarstellung natürlich keinen guten Eindruck hinterließ und die Neubürgergewinnung somit erschwerte. Was wiederum eine Überalterung der Spielerschaft zur Folge hatte, die unvermeidlich ein Abebben von Enthusiasmus und Kreativität zur Folge hatte.
Anstatt eine Lösung für dieses Problem zu entwickeln wurde aber eine Lösung für ein gar nicht bestehendes Problem konstruiert, welches in der Folge dann erst mal geschaffen bzw. ausgerufen wurde. Und die Lage erst so richtig beschissen gemacht hat.
Vor 6 oder 7 Jahren waren die Micronations in ihrer technischen Ausstattung allmählich nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit, begann die "1. Generation" zunehmend ermüdet abzutreten, und schien die "2. Generation" zahlenmäßig zu schwach auszufallen, um sie adäquat ersetzen zu können. Die einzige Reaktion darauf war die Neudefinition der VL-/RL-Trennung (der ich auch Entwicklungen wie etwa die "Kartenkriege" zuschreibe).
Heute sind die Micronations in ihrer technischen Ausstattung mittlerweile hoffnungslos überholt, werden quasi nur noch von übriggebliebenen oder in einer Art "Lazarus-Effekt" zurückgekehrten Angehörige der 2. und teilweise sogar noch 1. Generation bevölkert, der kümmerliche Ansatz einer "3. Generation" besteht fast nur noch aus vereinzelten nativen Rollenspielern, für die die lebenden Fossilien der 1. und frühen 2. Generation quasi Marsianisch sprechen wenn sie von der Zeit vor der Ur-Katastrophe - der neudefinierten und zum Dogma erhobenen VL-/RL-Trennung - reden.
Denn genau das war das, die Ur-Katastrophe. Eine sinnlose und überflüssige Verschlimmbesserung völlig an den sich erstmals abzeichnenden strukturellen Problemen vorbei, die mit der Zeit zum eigentlichen und in nie zuvor dagewesem Maße existenzbedrohenden Problem geworden ist.